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Frohes Fest!

Früher war Weihnachten immer sehr festlich – die ganze Familie stand vorher nochmal im Bad an, um noch schnell unter die Dusche zu springen, dann hat man sich in feinsten Zwirn gekleidet und sich ordentlich frisiert. Meistens waren wir nach dem Kaffee in der Kirche, obwohl wird sonst nicht gerade zu den fleißigen Kirchgängern gehörten, aber es gehörte irgendwie traditionell dazu. Danach gab es Abendbrot – meist Schweinebraten mit Kartoffelsalat – und anschließend fand die Bescherung statt. Es gab immer einen schön geschmückten Tannenbaum, der immer in allerletzter Minute an Heiligabend von meinem Vater gekauft wurde. Manches Mal fand die Besorgung so derartig auf dem letzten Pfiff statt, dass bei den letzten verbleibenden Bäumen kein richtig schöner mehr dabei war und ich kann mich erinnern, dass in einem Jahr aus 2 Tannen eine gebastelt wurde, weil beide mit wenigen spärlichen Ästen ausgestattet waren und die etwas schönere zusätzlich mit Ästen der zweiten Tanne aufgepimt werden musste. Ein anderes Jahr gab es Kiefer statt Tannenbaum, weil es sonst nichts Grünes mehr käuflich zu erwerben gab. Im Jahr darauf haben wir daher einen selbst gefällt. Geschmückt wurde irgendwann zwischen Mittagessen und dem Duschen – auch hier gab es traditionelle Aufgabenteilung. Der Patriarch bestimmte, was an die Zweige gehängt werden sollte, Mutter und ich entwirrten die Lichterkette oder bügelten Lametta auf und die Haus- und Hofkatze sortierte den Behang der unteren Äste neu. Meistens wurde ich irgendwann zwischen Kaffee und Bescherung genötigt, auf dem Klavier ein paar einstudierte Weihnachtslieder vorzuspielen, meistens mit der Drohung mir im kommenden Jahr den Klavierunterricht ersatzlos zu streichen, und es wurde gemeinsam gesunden. Zur Not auch ohne musikalische Begleitung – wir besaßen zwei identische Liederbüchlein, so dass man textsicher an beiden Seiten des Tisches durch mehrere Strophen kam. Ein Weihnachtsabend endete einmal damit, dass mein Vater meiner hinauseilenden Mutter den Kartoffelsalat hinterhergeworfen hat. An den Grund kann ich mich nicht mehr erinnern, meistens war auch kein besonderer Grund erforderlich, dass mein Vater völlig ausrastete, ich weiß nur noch, dass meine Mutter und ich recht lange Kartoffel- und Gurkenstückchen aus dem langfloorigen Teppich herauskratzen; die Spuren an der Tapete waren hingegen recht leicht zu entfernen. Der Rest von Weihnachten verlief dann weitgehend friedlich, da mein Vater es anschließend vorzug, in die Spielbank zu entschwinden und unser Weihnachtsgeld beim Roulette zu verzocken. Und in einem Jahr flog mal durch das Erkerfenster etliche unserer Zaunlatten und segelten knapp an mir vorbei bis kurz vor dem Fernseher. Ein paar Jugendliche hatten sich gestritten und einer davon war durch unseren Garten geflüchtet, um den Angreifern zu entkommen. Diese vermuteten ihn aber im Haus und so schickten Sie hölzerne Grüße durchs Fenster. Für einen ungestörten weiteren Ablauf der Feiertage wurde dann das Fenster mit Brettern vernagelt, was die Dunkelheit im Zimmer verstärkte und bereits morgens das Anschalten der gesamten Weihnachtsbeleuchtung erforderlich machte. Aber insgesamt blieb mir Heiligabend als recht festlich in Erinnerung.

Sehr förderlich für das weihnachtliche Gefühl ist leichter Schneefall und klirrende Kälte, wenn man heutzutage schon nicht mehr in die Kirche geht. Eine Mindestanforderung ist aber immer noch das Spielen von Weihnachtsliedern. Entweder der Sohnemann, der dann seinen Fortschritt beim Gitarrenunterricht präsentieren kann oder meine kläglichen Restfähigkeiten am Klavier, zur Not auch eine CD.

Dieses Jahr war alles anders.

Lieblingskerl entschied Anfang Oktober, dass es sein Herzenswunsch wäre, einmal mit der kompletten Familie Heiligabend bei uns zu feiern. Wer weiß denn schon, wie lange seine „Ellies“ noch leben, zumal sein Vater bereits an Krebs erkrankt ist. Und überhaupt: meine Mom ist ja auch nicht mehr die Jüngste und auch uns könnte ja jeden Tag etwas wiederfahren. Mit dieser Endzeitstimmung machten wir uns an die Planung.

Es ging schon mal recht holperig los, da bis Anfang Dezember keiner verbindlich zu- noch absagen wollte. Vorsorglich habe ich Mitte Oktober unser Weihnachtsgeschirr noch um ein Paar Teller und Tassen ergänzt, denn es gibt nicht viel schlimmeres, als eine festlich gedeckte Tafel mit bunt zusammengewürfeltem Geschirr oder – noch schlimmer! – eine einheitlich gedeckte Tafel mit nur einem unpassenden einzelnen Teller. Da werde ich ganz komisch… also noch komischer als sonst! Die Bestellung ließ dann gut 2 Monate auf sich warten, so dass ich schon ganz kribbelig wurde. Unser Weihnachtsgeschirr ist nämlich ein Auslaufmodell und es war nicht so einfach, noch irgendwo große und kleine Teller, Untertassen und Kaffeetassen aufzutreiben. Ich musste in 2 Läden bestellen und diese schrieben von Lieferschwierigkeiten, Nachbestellung beim Hersteller und solch Hiobsbotschaften.

Diese Zeit zwischen Einladung und dem eigentlichen Fest, wo man weder weiß, wer kommt wann und möchte vielleicht der eine oder andere bei uns übernachten, empfand ich als recht belastend. Lieblingskerl sieht alles immer ganz locker und sagte so etwas wie: „wen stört es denn schon, wenn eine von einem anderen Geschirr essen muss“ (na mich!) und „da achtet doch kein Mensch drauf“ (doch, ich!) bis hin zu „ist mir jetzt auch egal, Weihnachten findet so oder so statt und wer da ist da oder auch nicht“, dass ich Stresspickel bekommen habe. Quasi in letzter Sekunde wurde mir dann mitgeteilt: „Es kommen übrigens alle…“ – „Super; ich bin vorbereitet“ – „… und zusätzlich kommt noch die Mutter meiner Schwägerin samt Freund“ – „AHHHHHH!“

Ich war dann ziemlich bockig, weil ich ungerne so ein intimes Fest wie Heiligabend mit Fremden feiern möchte… und darüber hinaus möchte ich gerne gefragt werden, so aus Prinzip und für das Gefühl, im eigenen Haus noch irgendwas zu sagen zu haben (wenn ich auch nie mein Veto eingelegt hätte). Nur eine spontan eingefädelte Nachbestellung des Weihnachtsgeschirrs seitens Lieblingskerls (mittlerweile wieder auf allen Plattformen in rauen Mengen verfügbar…) hat mich milde gestimmt.

So hatten wir also insgesamt ein kleines Familienfest mit 11 Personen vor uns. Aber auch ein mittlerweile auf 11 Teile angewachsenes Geschirrservice. Immerhin!

Erschwerend kam hinzu, dass wir einen neuen Schrank für das Esszimmer bestellt haben, aber diese nach nunmehr 8 Wochen immer noch nicht da ist, obwohl er eigentlich nach 7 Tagen geliefert werden sollte. Bedauerlicher Fehler beim Rausholen aus dem Lager – Schrank leider derart defekt, dass die Firma einen neuen anfertigen lassen musste. Leider hatte ich schon den Schrank, der ersetzt werden sollte, abgebaut und unser Esszimmer glich optisch einem Katastrophengebiet. Kartons, Kisten, Tüten und Häufchen von Bastelkram, der Gesamtbestand an Kerzen und Kerzenständern meines ganzen Lebens, ungeahnte Mengen an 100er Packs Teelichter und Dekozeugs für Anlässe aller Art lagerten übergangsweise quasi überall.

Da ich den abgebauten Schrank weder Müllhalde noch einem Online-Verkufs- oder Flohmarktportal antun wollte und konnte (viel zu alt zum weg werfen, aber leider nicht gut genug für einen Antiquitätenhändler), entschloss ich mich, diesen auf dem Dachboden einzulagern. Nichtsahnend entdeckte ich darauf hin, was schon alles in ähnlicher Absicht auf den Dachboden ein vorübergehendes Zuhause gefunden hatte – und habe dann tagelang aussortiert. Ein ganzer Kofferraum (Kombi mit unglaublichem Ladevolumen) voll Kinderbekleidung und Spielzeug fand so seinen Weg zur Spendenkiste beim kirchlichen Stift. Und bis heute beherbergt der Kofferraum alles, was bis um Eintreffen der Gäste keinen vernünftigen Platz gefunden hatte. Ich werde vermutlich die nächsten Tage Fahrrad fahren!

3 Tage Urlaub habe ich mir vor Weihnachten genommen, um Kekse, Kucken und Torten zu backen, , Einkäufe zu erledigen, die Festbeleuchtung zu komplettieren und zu wienern und zu schrubben und die Bude auf links zu drehen und komplett auf Vordermann zu bringen. Als letzte Idee fiel mir noch ein, ein kleines Körbchen bereitzustellen, in dem jeder Gast sein Handy legen kann, um es beim Gehen wieder mitzunehmen. Aber Lieblingskerl fand das albern und überflüssig. Er sollte noch eines Besseren belehrt werden!

Und dann kam die liebe Sippschaft an. Zum Glück mit Verspätung und nicht wie beim letzten Treffen schon eineinhalb Stunden vor Beginn, während man es selbst noch nicht mal unter die Dusche geschafft hatte.

Man sollte noch Folgendes vorab wissen: Lieblingskerl hat in dieser Familie eine Meldepflicht. Einseitig und so gewiss wie das Amen in der Kirche. Unumkehrbar. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Nur er hat sich stets nach dem werten Befinden aller zu erkundigen und selbst einen regelmäßigen Rapport abzuliefern. Bei ihm wird sich höchstens gemeldet, wenn der neue PC/ das neue Smartphone/ der Drucker/ whatever nicht auf Anhieb funktioniert. Dann wird sich daran erinnert, dass Telefone auch zum Absetzen eines Gespräches genutzt werden können. Ansonsten hört sich Lieblingskerl immer an: „Warum meldest Du Dich jetzt erst?“ „Komm doch mal wieder vorbei“ und „Erklär mir doch mal, warum wir Dich nicht öfters hören“. Meistens ist der Grund simpel: er wollte so was nicht hören und schiebt seit Wochen überfällige Telefonate oder Besuche vor sich her. Oder zusammengefasst; kein Bock auf diese ganze Arie. Oder ich bekomme Geburtstagskarten, in denen ich aufgefordert werde, doch mal offenzulegen, warum ich Lieblingskerl verbiete, sich regelmäßig bei seiner Familie sehen zu lassen. Tja, vielleicht liegt es daran, dass ich darauf keinen Einfluss habe?

Die Lieben begrüßen sich also untereinander überschwänglich und wortreich, legen die Berge an Geschenke ab („nein, wir schenken uns nichts! Höchstens eine Kleinigkeit für die Kinder!“), pellen sich aus den Jacken und Schuhen, schlüpfen in die mitgebrachten Hausschuhe (hä? Als wenn sie jemand dazu verpflichtet hätte… ich jedenfalls nicht) und warten darauf, dass ich aus der Küche zu ihnen eile, um sie zu begrüßen. Dann wird Platz genommen und Kaffee und Kuchen kredenzt.

Vor lauter Gastgeberpflichten bekomme ich noch nicht viel mit, aber im Laufe der Veranstaltung wird mir folgendes klar: Es finden nur Gespräche statt, an denen ich nicht teilhaben kann, weil ich viele Akteure der Geschichten nicht kenne. Wobei der Großteil der Konversation gar nicht Gespräch ist, sondern eher ein derbes Sprücheklopfen. Beispiel? Na nur allzu gerne:

„Gott ist der da im blauen Hemd. Immer, wenn er auf Klo Kacken geht, rufe ich „OHHH GOTT“ und er sagt dann „Ja, völlig richtig! Nenn mich Gott.“ Für mich ist Papa Gott.“

Oder so sinnfreies Rumgefrotzele: „Sei nett zu meinem Sohn!“ „Oh, ich haue ihm gerne von Dir ein Paar in die Fresse“ „Ach, Du bist doch blöd!“. Wohlgemerkt eine Unterhaltung unter Erwachsenen.

Ich habe eine Weile versucht, Schimpfwörter mitzuzählen, bin aber recht schnell aus dem Takt gekommen.

Ein weiteres Highlight war, dass die Nichte von Lieblingskerl die ganze Zeit über Ihr Handy in der Hand hielt und die Gesellschaft mit Fotos, Videos und Whattsapp-Nachrichten unterhielt. Irgendwann saßen ungefähr 7 Leute am Tisch und zeigten sich gegenseitig unglaublich wichtige Sachen auf dem Smartphone – nur mit den Gastgebern wollte keiner reden. Ich schlug einmal vor, wir könnten uns ja alle zusammen mit einem Quiz beschäftigen, welches ich extra zum allgemeinen Vergnügen gekauft habe, doch geantwortet hat mir keiner.

Nichtenkind redete nur 2x mit uns: einmal, als sie ein Ladekabel brauchte und einmal, als sie das W-LAN-Passwort benötigte. Ich war zunächst sehr überrascht, dass es überhaupt reden kann. Einmal hat sie fast mit Lieblingskerl geredet: „Lieblingskerl, ich habe hier ein Video, dass MUSST Du Dir ansehen!“ Lieblingskerl reagiert höchst erfreut, dass sich seine Nichte doch noch daran erinnerte, dass es ihn gibt; doch diese rannte an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Der Freund ihrer Großmutter heißt nämlich auch Lieblingskerl und zu diesem setzte sie sich dann auf den Schoß. Sie ist 16, groß, blond, knackenge weiße Jeans, auf der sich der Tanga abzeichnet und trug extra bauchfrei, damit ihr Bauchnabelpiercing gut zur Geltung kam. Sie ließ sich in die Arme des alten Mannes fallen und ließ die frisch gelverstärkten Krallen über das Display gleiten. Bei Opa Lieblingskerl auf dem Schoß reagierte dieser auch höchst angemessen als er rief: „Wat hasst‘n da? Willste mit mir zusammen nen Porno kieken?“ Man sollte sich vorher überlegen, wie nuttig man sein Outfit wählt.

Meine Mutter guckte mit völlig entgleisten Gesichtszügen zu mir rüber und Sohnemann flüsterte mir ins Ohr „Mama, wir habe auch schon schönere Weihnachten gefeiert“. Extrapunkt in Diplomatie, mein Sohn!

Die Zeit dazwischen wurde genutzt, um Lieblingskerl sehr einfühlsam und wortgewandt darauf aufmerksam zu machen, dass er in letzter Zeit ganz schön fett geworden sei.

Nach dem Kaffee wurde beschlossen, Geschenke zu verteilen. Da besprochen wurde, nur den Kindern eine Kleinigkeit zu schenken, habe ich mich darauf verlassen und keine Präsente für die Erwachsenen besorgt. Lieblingskerl war etwas unsicher, ob das richtig sei, da meinte ich noch: „mach Dir keine Gedanken – erstmal ist das beschlossene Sache und außerdem schenken wir allen ds Weihnachtsessen bei uns im Haus – das ist doch schon Geschenk genug!“. Nun beschenkten sich alle gegenseitig, also bis auf uns… Meine beiden Männer bekamen beide Schokolade aus der Schweiz, für mich gab es von den Schweizern kein Mitbringsel – vermutlich halten die mich für grob adipös, wo doch schon Lieblingskerls Bauch Grund zu Beleidigungen war. Von Lieblingskerls Eltern bekam ich eine Schachtel Trüffelpralinen (die ich nicht leiden kann, aber das wussten sie vielleicht nicht) und von der Mutter meiner fast-Schwägerin bekam ich Rotkäppchensekt der Sorte „mild“ ( den ich nicht leiden mag, weil mir Rotkäppchen immer einen Brummschädel verursacht UND weil ich nur trockenen Sekt mag, aber das wusste sie vielleicht nicht). Leute, ehrlich: wenn man beschließt, nichts zu schenken, ist es ok, nichts zu schenken. Dann doch irgendwas zu schenken ist vorsätzlich bösartig für den Fall, dass sich der Beschenkte an die Abmachung hält und dann mit leeren Händen da steht. Und auch bei Kleinigkeiten loht es sich, Neigungen zu erfragen. Einfach nur irgendwas schenken um sich zu sagen: „Haken hinter, erledigt!“ erfreut allgemein Niemanden.

Eigentlich hatte ich gehofft, der Lieblingskerl stellt sich mal hin und sagt sowas wie: „Schön, dass ihr alle da seid. Unser Geschenk ist die Einladung zu unserem schönen Festessen hier am heiligen Abend – lasst es euch schmecken!“ oder so etwas in der Art, doch auf Rede reden hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits keine Lust mehr.

Zum Schluss sagte Schwägerin zur Nichte: „Nee, lass die Tüte mal hier liegen, die nehmen wir nicht mit, die ist ja schon kaputt!“ Ich habe auf Anhieb verstanden, dass sich meine Pflichten als Gastwirtin selbstverständlich auch auf das Wegräumen vom Dreck meiner Gäste erstrecken. Ist ja in DER Familie nicht wie bei Freunden, wo man fragt, wo der Mülleimer ist (wenn man es denn schon nicht merken konnte) und selbst was weg wirft, weil man einfach mitdenkt und nett ist und höflich ist. Aber das sind schon 3 Eigenschaften, die in Bezug auf seine Familie einfach keinen sinnvollen Satz ergeben.

Erst- und Zweitfeiertag habe ich genutzt, um meine depressive Seite kennenzulernen und habe viel geweint. Und mich bei meiner Familie entschuldigt, dass Weihnachten so war, wie es war. Es wird keine Wiederholung geben. Nächstes Jahr brauche ich Schnee, Kälte, ein Funkloch und Einsamkeit.